Spielregeln?
Was hat der öffentliche Raum mit einem Turnhallenboden gemeinsam? Nichts, eigentlich. Warum gibts dann immer mehr bunte Striche im öffentlichen Raum?
Liebe Freunde und Freundinnen von OpenSquare
Sie kennen bestimmt die Zeichen und Markierungen auf Böden von Turnhallen. Sie repräsentieren die verschiedenen Spiele, welche in den Hallen gespielt werden, oder genauer noch, deren Spielregeln: das Spielfeld, die Mittellinie, die Strafräume, der Penaltypunkt, das Goal etc. Diese Markierungen sind wichtig, denn ohne Spielregeln gibt es kein Spiel. Manchmal fragt man sich allerdings, wie die Spielenden es schaffen, entlang der für sie richtigen Markierungen zu spielen. Es funktioniert vermutlich gerade deswegen, weil alle Beteiligten dasselbe Spiel spielen.
Seit dem Aufkommen des Automobils im letzten Jahrhundert – und der damit verbundenen höheren Verkehrsgeschwindigkeit (siehe PS) – gibt es auch Markierungen auf Strassen und Plätzen, also im öffentlichen Raum, und diese nehmen rasant zu. Anfänglich waren es die Mittelstreifen, welche die linke von der rechten Fahrspur trennten, und später kamen die Fussgängerstreifen und die Parkfelder dazu. Heute gibt es auf Strassen und Plätzen Leit- oder Mittellinien, Warnlinien, Sperrlinien, Fahrbahn-Begrenzungslinien, Radlinien, Ordnungslinien, Haltelinien und auch Sperrflächen, Geschwindigkeitstrichter, Motorrad-Risikokurven etc. und immer wieder auch neue Erfindungen wie «Sharrows» (share and arrow) oder der Mehrzweckstreifen. Um diese Zeichen und Markierungen einfacher unterscheiden zu können (ganz im Sinne des Turnhallenbodens) mussten nun auch immer mehr Farben eingesetzt werden. Anfangs waren die Strassenmarkierungen weiss. Mit der Einführung des Fussgängerstreifen kam Gelb dazu, die Farbe der Schweizer Wanderwege. Heute sind die Strassenmarkierungen weiss, rot, blau, gelb und grün und immer öfter auch hellgelb, hellblau und pink.
Was hat der öffentliche Raum mit einem Turnhallenboden gemeinsam? Nichts, der öffentliche Raum sei, so der katalanische Anthropologe Manuel Delgado «gerade nicht der organisierte, verwaltete, rationale, geplante Raum – sondern der spontane, nicht kalkulierbare, auch flüchtige Raum, der sich in ständiger Bewegung befindet und sich durch das unvorhersehbare auszeichnet». Oder wie Christoph Haerle meint: «Ich bin der festen Überzeugung, dass öffentliche Räume nur dann gute öffentliche Räume sind, wenn sie funktional unterbestimmt sind».
Die Spielregeln im öffentlichen Raum sind einfach und für alle gleich, sie brauchen weder Zeichen noch Markierungen. Es geht darum, Offenheit und Verständnis füreinander zu zeigen und gegenseitige Rücksichtnahme. Die funktionalistische Organisation des Verkehrs im Siedlungsgebiet, mit ihren immer mehr und noch farbigeren Markierungen kippt ins Groteske. Tempo 30 fürs ganze Siedlungsgebiet ist angesagt – und ebenso konsequent rechts vor links.
Thomas Schregenberger
OpenSquare
PS: Matthias Stocker, Architekt und OpenSquare Newsletter-Leser, hat uns diesen Link geschickt.
Die Aufnahme vom Verkehr in San Francisco wurde am 14. April 1906 auf der Market Street gedreht, nur vier Tage vor dem Erdbeben und dem Feuer, bei dem das Negativ fast verloren ging. Sie wurde von den „Bewegtbildfotografen“, den Brüdern Miles produziert.