Öffentlicher Raum, den wir meinen

Öffentlicher Raum, den wir meinen

Liebe Freunde und Freundinnen von OpenSquare

Der öffentliche Raum vor unserem Küchenfenster ist gewiss keine Touristenattraktion. Ein Park ist weit und breit nicht auszumachen. Stattdessen zwei Strassen, eine Kreuzung, einige Parkplätze, dazwischen halbwüchsige Bäume, die noch keine Ahnung haben von der Allee, die sie eines Tages werden sollen. Wir wohnen an einer grossen Unterführung: Eine dreispurige Strasse mit Velostreifen, links und rechts breite Fussgängerunterführungen, zwei Treppen.

Es gibt keine Erdgeschossnutzung, kein Fastfoodmobil und die einzigen Stühle und Bänke stehen auf der Terrasse des Hotels vis-a-vis auf sorgfältig abgesperrtem Privatgrund mit Konsumzwang. Es scheint, als biete der öffentliche Raum hier seinen NutzerInnen nichts als unschöne Mobilitätsinfrastruktur.

Im Alltag ist es genau diese Sicht, die mich bewegt, öffentlichen Raum als elementares Allgemeingut unserer Gesellschaft einzufordern. Denn hier treffen sich buchstäblich alle: Väter mit Kinderwagen, dahinter ein Dreikäsehoch auf seinem Holzvelo, der Helm fast grösser als das Gefährt. Sportliche Jogger, die einem Rollstuhlfahrer mit Hund ausweichen, handyfixierte TouristInnen mit Rollkoffern, Jugendliche zu zweit auf ihrem E-Skooter, irgendwie unbekümmert und frei, Samstag abends, als stünden sie am Bug der Titanic. Wenn sie ihr Trottinett unvermittelt stehen lassen, provokativ mitten auf der Verkehrsinsel oder unten an der Treppe finde ich das blöd, wie alle. Aber was solls. Man kann ja, denke ich, die Treppe trotzdem benützen. Die wird sowieso oft und gern „umgenutzt“: Als Sitzbank für ein schnelles Mittagessen, als Treffpunkt für einen Schwatz unter Freundinnen in der Abendsonne oder für Trauben von Jugendlichen als Ort zum „Vorglühen“.

Leute treffen sich in diesem Raum, gewollt oder zufällig, begrüssen sich, plaudern, verabschieden sich. Und alle kommunizieren miteinander. Denn ohne Kommunikation geht es hier nicht: Es gibt ja nicht nur FussgängerInnen sondern auch eilige Autofahrende, tief vermumte Uber-Eats-FahrerInnen, coole E-Bike-BesitzerInnen und selbstbewusste Lastenvelos, die hier durchwollen. Nicht immer reicht die Signalisation aus, um alles in geordnete Bahnen zu lenken. Dann häufen sich die Vorfälle, bei denen VelofahrerInnen automobile Mitmenschen auf den Streifen aufmerksam machen, der eigentlich Fahrrädern vorbehalten ist. Sie tun das je nach Temperament mit mehr oder weniger höflicher Gestik.

Andererseits hat es bei schönem Wetter jeweils besonders viele TeilnehmerInnen an der nun nicht mehr stattfindenden Critical-Mass. In dem Fall sind es die ausgebremsten AutomobilistInnen, die sich aufregen und ihrem Ärger mit Hupen Luft verschaffen. Das ist auch nicht die einzige massenhafte freie Meinungsäusserung, die sich im öffentlichen Raum vor unserem Fenster abspielt. Die Trommeln der Frauendemo sind gern gesehener (und gehörter) Gast. Manchmal merken wir erst, dass irgendwo eine Demo stattfindet, wenn die Wasserwerfer auffahren und die Polizei sich bereitmacht, die Unterführung vor unbewilligten Demokratie-Feldzügen zu schützen. Ich lese am nächsten Tag in der Zeitung, worum es ging, und bilde mir eine Meinung, ob ich in diesem Fall die Polizeipräsenz nötig, unnötig oder übertrieben restriktiv finde. In Diskussionen heisst es dann oft: „Da könnte ja jeder kommen!“. Ich denke: „Ja. Genau.“

Vielleicht sehe ich das zu romantisch, aber ich bin wirklich zufrieden mit dem öffentlichen Raum wie er hier ist. Ich wünsche mir nicht, dass die Strasse vor unserem Haus autofrei wird. Warum sollte ich: Es wäre dann sehr still – nachts um vier besonders – und für mich als Frau ziemlich unheimlich. Gefährliches Rasen ist ohnehin kein Thema in dem vielfältigen Treiben. Und wenn die Markierungen für Autos, Velos, FussgängerInnen langsam ein bisschen verblichen wirken, wen stört‘s. Ich brauche keine neuen barbie-farbenen Markierungen und auch keine bauliche Trennung des Velostreifens von der Fahrbahn. Diese Massnahmen wollen nur allen sagen, wo sie hingehören und wo nicht.

Aber es ist öffentlicher Raum: Hierhin gehören alle.

Herzlich

Sibylle Grosjean

OpenSquare

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